Ich sehe es immer noch vor mir: Wie er auf dem Radweg entlang schlendert, unachtsam – ein Tollpatsch. Ein Radfahrer klingelt lautstark. Ich rufe ihn von hinten, er dreht sich um, geht endlich einen Schritt zur Seite. Wartet auf mich. „Na bitte, geht doch!“ denke ich leise für mich.
Einen Ohrstöpsel im Ohr, den anderen
vor seinem T-Shirt hin und her baumeln lassend, hält er mit mir
Gleichschritt. Ein Ohr war immer frei, frei für mich. Doch das ist
lange her. Traurig eigentlich.
Dort hinten, da sitzt er sicher. Wie
früher, vielleicht jedenfalls. Doch ich gucke nicht hin. Betrachte
den Bordstein auf dem ich entlang schreite, bis ich mich auf die
andere Seite unserer Bank setze. Wenn ich mich jetzt nach hinten
lehne müsste ich seinen Rücken spüren, doch ich tu es nicht.
Mein Kopf blättert die Chronik aller
Gespräche, die wir hier führten, durch. Nur wenige sind sorgfältig
vermerkt. Die meisten nur noch wegen ihrer Existenz mit Datum
gekennzeichnet, einige vergessen, manche ausradiert.
Er grüßt mich plötzlich, völlig
überraschend, als ich mit den Gedanken weit weg bin und erzählt von
seiner Freundin. Dass sie nun eine Ausbildung anfange und dass er sie
liebe. Ich freue mich für ihn. Das sage ich ihm ohne ihn auch nur
bei einem ausgetauschten Wort anzusehen. Ich weiß genau, dass er
jetzt lächelt und träumerisch auf die bunte Blumenwiese vor ihm
starrt, die dieses Jahr neu angepflanzt wurde und bestimmt einer
Blumenwiesen-Mischung entstammt, die nächstes Jahr lediglich Unkraut
bringen wird. Mein Blick streift den Kiesweg vor mir, über das
dichte Gebüsch, in dem Vogelbabys nach ihren Eltern schreien und
bleibt schließlich an dem Wald hängen, in dem wir oft spazieren
gingen. Ich weiß genau, dass er nicken wird, wenn ich ihn jetzt
frage ob wir hin gehen. Nach meiner halblauten Frage, richten wir uns
langsam auf und machen uns auf den Weg. Ein ganzes Stück geht es an
einem glucksenden Bach entlang. Ich frage mich, ob er hier wohl noch
entlang spazieren wird, wenn er alt ist. Graues Haar, Halbglatze und
mit krummem, schmerzenden Rücken schlurft er dann den Kiesweg
entlang. Traut sich nicht mehr unseren Trampelpfad zu nehmen, aus
Angst über die herausragenden Wurzeln zu stolpern. „Wenn er doch
nur so alt wird!“, denk ich. Und mit einem sehnsuchtsvollen Blick
auf den kleinen Pfad der sich nach wenigen Metern im Gebüsch zu
verlieren scheint, verabschiede ich mich dieses Mal ohne eine
Umarmung von ihm. Lautlos, wie er gehe ich meinen Weg – zurück in
den Alltag.
(20.7.2012)