Dienstag, 24. Juli 2012

Spaziergang mit einem alten Freund


Ich sehe es immer noch vor mir: Wie er auf dem Radweg entlang schlendert, unachtsam – ein Tollpatsch. Ein Radfahrer klingelt lautstark. Ich rufe ihn von hinten, er dreht sich um, geht endlich einen Schritt zur Seite. Wartet auf mich. „Na bitte, geht doch!“ denke ich leise für mich.
Einen Ohrstöpsel im Ohr, den anderen vor seinem T-Shirt hin und her baumeln lassend, hält er mit mir Gleichschritt. Ein Ohr war immer frei, frei für mich. Doch das ist lange her. Traurig eigentlich.
Dort hinten, da sitzt er sicher. Wie früher, vielleicht jedenfalls. Doch ich gucke nicht hin. Betrachte den Bordstein auf dem ich entlang schreite, bis ich mich auf die andere Seite unserer Bank setze. Wenn ich mich jetzt nach hinten lehne müsste ich seinen Rücken spüren, doch ich tu es nicht.
Mein Kopf blättert die Chronik aller Gespräche, die wir hier führten, durch. Nur wenige sind sorgfältig vermerkt. Die meisten nur noch wegen ihrer Existenz mit Datum gekennzeichnet, einige vergessen, manche ausradiert.
Er grüßt mich plötzlich, völlig überraschend, als ich mit den Gedanken weit weg bin und erzählt von seiner Freundin. Dass sie nun eine Ausbildung anfange und dass er sie liebe. Ich freue mich für ihn. Das sage ich ihm ohne ihn auch nur bei einem ausgetauschten Wort anzusehen. Ich weiß genau, dass er jetzt lächelt und träumerisch auf die bunte Blumenwiese vor ihm starrt, die dieses Jahr neu angepflanzt wurde und bestimmt einer Blumenwiesen-Mischung entstammt, die nächstes Jahr lediglich Unkraut bringen wird. Mein Blick streift den Kiesweg vor mir, über das dichte Gebüsch, in dem Vogelbabys nach ihren Eltern schreien und bleibt schließlich an dem Wald hängen, in dem wir oft spazieren gingen. Ich weiß genau, dass er nicken wird, wenn ich ihn jetzt frage ob wir hin gehen. Nach meiner halblauten Frage, richten wir uns langsam auf und machen uns auf den Weg. Ein ganzes Stück geht es an einem glucksenden Bach entlang. Ich frage mich, ob er hier wohl noch entlang spazieren wird, wenn er alt ist. Graues Haar, Halbglatze und mit krummem, schmerzenden Rücken schlurft er dann den Kiesweg entlang. Traut sich nicht mehr unseren Trampelpfad zu nehmen, aus Angst über die herausragenden Wurzeln zu stolpern. „Wenn er doch nur so alt wird!“, denk ich. Und mit einem sehnsuchtsvollen Blick auf den kleinen Pfad der sich nach wenigen Metern im Gebüsch zu verlieren scheint, verabschiede ich mich dieses Mal ohne eine Umarmung von ihm. Lautlos, wie er gehe ich meinen Weg – zurück in den Alltag. 

(20.7.2012)

Donnerstag, 19. Juli 2012

Türen


Ich schließe eine Tür. Ein letztes Mal blicke ich durch den Spalt um zu erhaschen was ich noch mitnehmen kann. Es fällt mir schwer zu gehen und ich stoße sie noch einmal ein paar Zentimeter auf. Doch da ist nichts, was mich hier noch hält. Nichts, was ich brauche. Nichts, was ich liebe. Nichts, was mir fehlen sollte. Nichts was mich braucht, liebt oder dem ich fehle. Vielleicht sind da noch irgendwo Wut, Trauer um einen Raum, den es nun wohl nicht mehr geben wird. Doch ich nehme all meine Kraft zusammen und ziehe an der schweren alten Eichentür, bis sie mit einem erstaunlich leisen Klicken ins Schloss fällt. Ich spähe durchs Schlüsselloch: Keine Reaktion. Nichts zu sehen. Alles was ich mitgenommen habe ist eine Kiste voll Erinnerungen, mit der ich nun die Tür tapeziere. Melodien erfüllen den Flur, Farben und Lichter erhellen die dunkle Tür. Wie lang ist das her? Hinter der Fassade nur eine dunkle, alte Eichentür. Ich schließe nicht ab. Und manchmal schwabbt eine Welle unter der Tür hervor, doch ich verschließe den Schlitz nicht. Wer sich bemüht kann die Tür wieder öffnen. Doch nun ist sie zu. Ich habe sie eigenhändig geschlossen!
Ich bin müde, dreh mich um, will gehen. Schaue wieder zurück. Schließe meine Augen. Alles dreht sich. Ich verliere den Boden unter den Füßen. Bin wieder da, zurück. In meinen Erinnerungen. In dem Raum.
Es ist vorbei! Will ich mich selbst anschreien. Lass endlich los! Die Melodien hinter mir verschwimmen in einem einzigen Gewirr, als wollten sie mich ziehen und zerren. Mit letzter Kraft öffne ich die Augen und blicke auf eine helle weit offene Tür. Da steht jemand. Hält seine Arme erwartungsvoll offen und blickt mich verzweifelt, aber liebevoll an. Ich schaue ihn an.
Wieso habe ich ihn nicht um Hilfe gebeten? Wieso habe ich alleine gekämpft?
Habe ich nicht damals hinter der Tür immer gesagt zusammen sei man stärker? Habe ich nicht Stunden damit verbracht jemandem zur Seite zu stehen, weil ich wusste, dass es so erträglicher wird, einfacher wird, schöner wird? Und, dass so, nicht einer allein all seine Kräfte aufbraucht?
Ich richte mich auf, ignoriere die Melodien hinter mir. Gehe vorsichtig einen Schritt vorwärts. Sie werden dumpfer, mit jedem Schritt, bis sie ganz verstummen. Als er sieht, dass ich zu ihm will läuft er mir entgegen und hält mich lange fest. Dann nimmt er mich an die Hand und zusammen gehen wir durch den Flur. Schließen Türen, öffnen sie. Bestaunen alte Gemälde und gehen gemeinsam durch quietschende, lange unbenutzte Türen.
Danke.